Schrumpfende Räume
Bei der ersten "Global Assembly" in Frankfurt wurde deutlich: Vielerorts sind Aktivist:innen mit wachsenden Repressionen konfrontiert.
Von Ramona Lenz
"Das Beziehungsgeflecht von Politik und privaten Unternehmen, das das Leben auf der Erde zerstört, existiert unabhängig von der geografischen Lage", erklärt Lian Gogali, die das Institut Mosintuwu im indonesischen Poso leitet. Selbst kleinste Dörfer in Zentral-Sulawesi seien mit europäischen Großstädten verbunden. "Diese Verbindung zur Welt war uns bewusst, als wir den Kampf gegen das Wasserkraftwerk in der Region Poso in Zentral-Sulawesi begonnen haben." Gogali zufolge haben sich in den letzten Jahrzehnten in der Region immer wieder gewaltsame Vorfälle ereignet, die auf Konflikte zwischen Christ:innen und Muslim:innen zurückgeführt wurden. Tatsächlich stünden handfeste wirtschaftliche Interessen dahinter. Indem die Region zu einer Terrorismus-Gefahrenzone erklärt wurde, könnten natürliche Ressourcen wie Nickel mithilfe des Militärs besser ausgebeutet werden. Davon profitieren nicht zuletzt Hersteller von Elektrofahrzeugen in Deutschland, die das Metall aus Indonesien für die Batterien von E-Autos benötigen. Friedensbildende Maßnahmen sind für Lian Gogali vor diesem Hintergrund immer auch Maßnahmen gegen globale Ausbeutungsverhältnisse und für den Schutz natürlicher Ressourcen.
„Im Kampf gegen die Zerstörung der Natur geht es nicht um Sieg oder Niederlage, sondern um die Würde aller Lebewesen.“ Lian Gogali (Friedens- und Umweltaktivistin aus Indonesien)
Als eine von 44 Menschenrechtsaktivist:innen aus 40 Ländern nahm Gogali vom 14. bis 17. Mai 2023 an einer "Global Assembly" in Frankfurt am Main teil, bei der über die Herausforderungen für Demokratie und Menschenrechte in der globalisierten Welt debattiert wurde. Anlass gab das 175. Jubiläum der ersten deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche, die seither als Symbol der Demokratiebestrebungen in Deutschland gilt. Hier versammelten sich im Mai des Jahres 1848 männliche Delegierte, um durch die Schaffung eines geeinten deutschen Nationalstaates die feudale Willkürherrschaft in den zahlreichen Monarchien im deutschsprachigen Raum zu überwinden. Zum ersten Mal in der Geschichte Deutschlands sollten Menschen- und Bürgerrechte gesetzlich verankert werden.
Demokratische Teilhabe
Damals wie heute drängen Menschen zur demokratischen Teilhabe, weil sie sich davon eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse erhoffen. Nun können die Lebensverhältnisse in einem abgelegenen Dorf in Zentral-Sulawesi allerdings auch von unternehmerischen Entscheidungen am anderen Ende der Welt bestimmt werden. Diese weltweiten Verflechtungen gilt es zu berücksichtigen, wenn es heute um demokratische Teilhabe geht. In Frankfurt hat sich daher im Zuge der Vorbereitungen des 175. Paulskirchenjubiläums ein zivilgesellschaftliches Netzwerk gebildet, das die Jubiläumsfeiern mit einem kritischen Blick von unten begleitet und Fragen nach der Teilhabe aller stellt, auch über Landesgrenzen hinweg. So ist auf Initiative zivilgesellschaftlicher Organisationen wie medico international, Brot für die Welt und Heinrich-Böll-Stiftung sowie des Frankfurter Instituts für Sozialforschung und der Frankfurter Rundschau die Idee einer globalen Versammlung entstanden. Sie fußt auf der Überzeugung, dass dem Erbe des demokratischen Aufbruchs von 1848 nur gerecht werden kann, wer die nationale Perspektive ins Globale öffnet. Die Initiative hat deshalb Menschen aus aller Welt nach Frankfurt eingeladen, um aus der Paulskirche einen "utopischen Raum" des Nachdenkens und Debattierens zu machen – über demokratische Wege zu einer in Gegenwart und Zukunft für alle Menschen gleichermaßen bewohnbaren Welt.
„Es gibt gerade jetzt, da die repräsentative Demokratie in vielen Ländern an ihre Grenzen stößt, die Notwendigkeit, zu transnationalen Treffen wie diesem zusammenzukommen.“ - Lina Attalah (Journalistin und Aktivistin aus Ägypten)
Die eingeladenen Aktivist:innen setzen sich trotz vielfach schrumpfender Freiräume und oft unter den Bedingungen staatlicher Repression für die Verteidigung, Durchsetzung und Erweiterung von Menschenrechten ein. Das Spektrum ist breit. Es geht um den Einsatz gegen Unterdrückung und Ausbeutung, für die Rechte von Frauen und LGBTQIA+, für die Sicherung von Ernährung und Landrechten, für Bewegungsfreiheit und würdige Arbeitsbedingungen, für Meinungs- und Versammlungsfreiheit und die Rechte von sprachlichen, religiösen oder kulturellen Minderheiten. So unterschiedlich die Kontexte und Kämpfe der Aktivist:innen auch sind, so groß ist der Wunsch nach Verbindung und Austausch.
Scheitern verbindet
"Es geht nicht einfach nur um ein nettes Zusammenkommen. Es gibt eine Notwendigkeit, sich zu treffen, gerade jetzt", sagte die Journalistin Lina Attalah aus Kairo. "Wir beobachten in vielen Ländern, dass die repräsentative Demokratie an ihre Grenzen stößt. Darüber müssen wir uns bei transnationalen Treffen wie diesem verständigen." Attalah berichtet als Journalistin über soziale Bewegungen und Konflikte im Nordosten Afrikas und in Westasien. Während des Arabischen Frühlings 2011 wurde sie mehrmals inhaftiert. Seit dem Scheitern des demokratischen Aufbruchs in Ägypten haben viele ihrer Kolleg:innen und Mitstreiter:innen das Land verlassen, andere mussten untertauchen oder sind in Depression versunken.
„Wir brauchen eine partizipative Demokratie, in der die Souveränität maßgeblich von den Bürgerinnen und Bürgern ausgeht. Nur so können die Menschen die Erfahrung machen, dass sie selbst es sind, die in einer Demokratie die Entscheidungen treffen.“ - Moussa Tchangari (Journalist und Aktivist aus Niger)
Auch die 1848er-Revolution in Deutschland ist zunächst gescheitert und die restaurativen Kräfte setzten sich am Ende durch. Zwar dürfte die Frankfurter Paulskirche vor der Einladung zur Global Assembly kein zentraler Bezugspunkt für die Aktivist:innen aus aller Welt gewesen sein. An der Geschichte der gescheiterten deutschen Revolution tun sich jedoch Anknüpfungspunkte auf: Das Scheitern von Kämpfen um Rechte und Teilhabe ist vielen vertraut. Attalah verbindet mit Frankfurt aber noch mehr, denn es waren Philosophen der Gruppe "Frankfurter Schule", die Bücher wie die "Dialektik der Aufklärung" über das Scheitern menschlicher Befreiung und die Errichtung neuer Herrschaftsformen verfasst haben – Schriften, die ihr und ihren Mitstreiter:innen in Ägypten in dunklen Zeiten Kraft zum Weitermachen gegeben haben: "Das Scheitern ist der Ausgangspunkt für neue Einsichten und Erfahrungen. Es stellt alles in Frage, was wir zu wissen glaubten, und führt uns in unbekannte Territorien."
Nicht nur in Ägypten sind Menschenrechtsaktivist:innen einer Militärdiktatur ausgesetzt, die versucht, sie mundtot zu machen. Der Menschenrechtler Moussa Tchangari spielte eine maßgebliche Rolle in der nigrischen Demokratiebewegung Anfang der 1990er-Jahre. In den letzten Jahren saß er immer wieder im Gefängnis, weil er weiterhin für demokratische Verhältnisse eintritt. Er berichtet, dass es im Sahel kaum noch Widerstand gegen die autoritäre Regierungsführung gebe. Korruption, Unterschlagung und eine Kultur der Straflosigkeit hätten das Modell repräsentativer Demokratie, das auch in vielen anderen Ländern der Welt unter Druck geraten sei, in den Sahelländern in die Krise gestürzt. Tchangari ist überzeugt: "Letztlich braucht der gesamte Sahel eine soziale Revolution im Sinne einer tiefgreifenden Neuordnung der gesellschaftlichen Institutionen. Wir brauchen eine partizipative Demokratie, in der die Souveränität maßgeblich von den Bürgerinnen und Bürgern ausgeht. Nur so können die Menschen die Erfahrung machen, dass sie selbst es sind, die in einer Demokratie die Entscheidungen treffen."
„Im Feminismus geht es nicht nur um die Rechte von Frauen. Es ist auch ein Kampf gegen neoliberale Bestrebungen, die die Demokratie untergraben.“ - Liz Meléndez (Soziologin und Feministin aus Peru)
Lokale Kämpfe, überlokale Strategien
Auch in Lateinamerika sind Autokraten an der Macht, die auf eine neoliberale Wirtschaftsordnung setzen und soziale Bewegungen bekämpfen. Liz Meléndez konstatiert: "Wir haben in Peru keine Demokratie; Menschenrechte werden hier mit Füßen getreten." Meléndez hat dazu beigetragen, dass Femizid, also der Mord an Frauen, in Peru als eigener Straftatbestand eingeführt wurde, und ist weiterhin engagiert im Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt. Sie steht für einen Feminismus, der sich nicht auf die Rechte von Frauen beschränkt, sondern sich gleichzeitig neoliberalen Bestrebungen widersetzt, die die Demokratie untergraben. "Feminismus ist nicht nur eine Kritik am Patriarchat", erklärt sie. "Feminismus beinhaltet nach meinem Verständnis den Kampf gegen die Unterdrückung im Allgemeinen und gegen all das, was in der Welt schiefläuft, also zum Beispiel auch den menschengemachten Klimawandel." Im vergangenen Jahr habe der Druck auf Menschenrechtsaktivist:innen und Feminist:innen in Peru massiv zugenommen, berichtet Meléndez. "In Peru für Menschenrechte einzutreten, ist schon schwierig. Noch schwieriger ist es, feministische Werte zu verteidigen." Sehr schnell werde man als Terrorist:in stigmatisiert. Die Global Assembly ist für sie eine willkommene Gelegenheit, um sich mit anderen Aktivist:innen über Strategien zur Stärkung von Demokratie und Feminismus zu verständigen.
Der Austausch über das Erstarken autoritärer Regime nahm bei der Global Assembly viel Raum ein, zunächst bei der großen Auftaktveranstaltung in der Paulskirche, mehr dann noch an den folgenden drei Tagen, in denen die Global Assembly unter Ausschluss der Öffentlichkeit in der Evangelischen Akademie in Frankfurt zusammenkam. Von Einschränkungen der Pressefreiheit über die gewaltsame Bekämpfung sozialer Proteste bis hin zu willkürlichen Inhaftierungen und lebensbedrohlichen Vertreibungen waren vielfältige Unterdrückungserfahrungen im Raum versammelt: leidvolle Erfahrungen, aber auch kraftvolle Erzählungen von lokalen Kämpfen und überlokalen Strategien. Längst sind die Teilnehmer:innen wieder auseinandergegangen. In transnationalen Arbeitsgruppen wollen sie jedoch über die nächsten Monate weiter miteinander arbeiten. Denn die zurückliegende Global Assembly war nur eine Vorversammlung. Die eigentliche, dann noch größere globale Versammlung ist für das Frühjahr 2024 geplant, wenn sich die Verabschiedung der Paulskirchenverfassung ein Jahr nach der ersten deutschen Nationalversammlung zum 175. Mal jährt.
„Die Versammlung an einem zentralen Ort des Finanzmarkt-Kapitalismus ist ein Geschenk an die Menschen in Frankfurt, Deutschland und Europa, die etwas verändern wollen. Von den Gästen aus aller Welt können sie viel lernen über alternative Formen, sich miteinander und mit der Natur in Beziehung zu setzen.“ - Coumba Touré (Schriftstellerin und Aktivistin aus Senegal)
Als zentrale Themen der Zusammenarbeit für die dazwischenliegende Zeit wurden der Kampf gegen Autoritarismus, für ökonomische Gerechtigkeit, für sozial-ökologische Erneuerung, für Gendergerechtigkeit sowie für neue Formen des Umgangs mit Flucht, Migration und Staatenlosigkeit identifiziert. Dabei haben die Teilnehmer:innen nicht zuletzt die deutsche Regierung und Öffentlichkeit als Adressatinnen im Blick. Die indische Feministin und Menschenrechtsaktivistin Roshmi Goswami schlug vor, die Gelegenheit zu nutzen, dass Deutschland Austragungsort der vergangenen wie der kommenden Global Assembly ist, um die feministische Außenpolitik der Bundesregierung kritisch in den Blick zu nehmen. Und die senegalesische Schriftstellerin und Aktivistin Coumba Touré betonte, die Versammlung an einem zentralen Ort des Finanzmarkt-Kapitalismus sei "ein Geschenk an die Menschen in Frankfurt, Deutschland und Europa, die etwas verändern wollen". Sie könnten etwas lernen über alternative "Formen, sich miteinander und mit der Natur in Beziehung zu setzen". Welche Fragen bei der Global Assembly im Frühjahr 2024 letztlich diskutiert werden und was vielleicht darüber hinaus passiert, ist offen. Es ist auch eine Frage von Ressourcen. Dass es einen großen Bedarf an transnationaler Vernetzung und Zusammenarbeit gibt, hat die zurückliegende Assembly allerdings gezeigt.
Kurz vor Beginn der offiziellen Feierlichkeiten zum „Paulskirchen-Jubiläum“ ist am 17. Mai 2023 in Frankfurt am Main die viertägige „Global Assembly für Menschenrechte, Demokratie und globale Gerechtigkeit“ zu Ende gegangen. Die 44 Teilnehmer:innen aus 40 Ländern verständigten sich darauf, die Arbeit bis zum kommenden März in transnationalen Gruppen fortzusetzen. Die Ergebnisse wollen sie dann bei einer weiteren, größeren Versammlung präsentieren.