Rechte der Natur

Akteur:innen & Initiativen

 

Rechte der Natur

Akteur:innen & Initiativen

Indigene Perspektiven: Das Beispiel des Lebendigen Waldes

von Jenny García Ruales, Max-Planck-Institut für Sozialanthropologie

Rechte der Natur erfordern einen interkulturellen Dialog zwischen verschiedenen Sichtweisen auf die Natur. Vonseiten indigener Völker existieren zahlreiche Bemühungen, das Konzept mit Leben zu füllen. Die Weltbilder und Organisationsstrukturen, die diesen zugrundliegen, unterscheiden sich oft grundsätzlich von denjenigen, auf denen das jeweilige Rechtssystem beruht.

Besonders interessant und weitreichend ist der Vorschlag des Pueblo Originario Kichwa de Sarayaku (indigenes Volk der Kichwa von Sarayaku). Sie schlagen vor, ihr Territorium in der ecuadorianischen Amazonasregion gestützt auf die Rechte der Natur als Kawsak Sacha“ (Lebendiger Wald) anzuerkennen - als „ein lebendiges und mit Bewusstsein begabtes Wesen, das Träger von Rechten ist“. Sarayaku verfügt über eigene Verwaltungsstrukturen und Formen der Justiz. Eine solche Autonomie indigener Völker und Nationen ist innerhalb des ecuadorianischen Nationalstaates durch die Verfassung anerkannt.

 

Die Erklärung des Lebendigen Waldes (Kawsak Sacha)

Sarayaku richtet sich mit seinem Vorschlag vor allem gegen die Ausbeutung der Natur durch Bergbau und anderen Raubbau am Wald. Aber auch geht es darum, das Konzept des lebendigen Waldes neu zu zu interpretieren und sich selbst Regeln zu geben, wie die Menschen mit dem Wald interagieren sollen.

Die rechtliche Anerkennung des Lebendigen Waldes erfolgt durch die Declaratoria de la Selva Viviente ("Erklärung des Lebendigen Waldes"), die von den Menschen von Sarayaku gemeinschaftlich und mit viel Kreativität verfasst wurde. Dafür wurde eine sogenannte juristische Minga durchgeführt. Minga ist eine Form der kollektiven Arbeit, in dem häufig ein ganzes Dorf einbezogen wird und für die Gemeinschaft wichtige Aufgaben verrichtet. Im Rahmen dieser Mingas wurde eine Form der Wald-Verfassung ausgearbeitet, die die „Erklärung des Lebendigen Waldes“ und weitere Vorschriften beinhaltet, wie beispielsweise die sogenannten „Normen des Zusammenlebens“, die zum Beispiel Regeln zur Jagd oder zur Fischerei beinhalten.

Die „Erklärung des Lebendigen Waldes“ ist ein juristisches Instrument. Hilda Santi, eine lidereza (Führungspersönlichkeit) aus Sarayaku erläutert dazu:

„Wir benutzen in der Erklärung die Sprache des Staates und des Rechts, um die Rechte, die wir gemäß der ecuadorianischen Verfassung haben (wie etwa kollektive Rechte und die Rechte der Natur), geltend zu machen“.

Gleichzeitig scheint der Wald selbst eine Quelle des Rechts zu sein. Den Wald als solche anzusehen, bedeutet anzuerkennen, dass der Lebendige Wald als normatives Netzwerk existiert. In diesem Netzwerk gibt es Regeln für das Verhalten der Menschen und aller anderen Wesen, die im Wald wohnen. In Art. 3 der Erklärung wird ein Wald-Pluriversum beschrieben, das aus sechs verschiedenen Welten besteht: der mineralischen, tierischen, vegetarischen, kosmischen, spirituellen und menschlichen Welt. Durch das Zusammenleben aller Elemente im Wald lernen die Sarayaku, wie die Menschen mit dem Wald koexistieren können.

Kuraka Yashinku, ein gesetzlicher Vormund, der verschiedenen Welten angehört, organisiert und schützt die Affen. Er ist ein Anführer, verantwortlich für die Mitregierung (co-gobernanza), wie es Narciza Gualinga gerne erzählt, und hat gelehrt, wie viele Affen gejagt werden sollten. Kuraka kann als traditionelle Autorität übersetzt werden. Es handelt sich um Menschen oder auch mehr-als-menschliche Wesen, die von Waldbewohner:innen wie Pflanzen und Tieren gelernt haben. Dabei besteht die Vorstellung, dass auch die Tiere und Pflanzen wiederum ihre eigenen Kurakas haben. Wir finden hier also Erzählungen, welche die Wesen des Waldes selbst zu Gesetzgeber:innen machen. So wurden etwa auch organisatorische Strukturen in Sarayaku von Tieren inspiriert.

Als die juristische Minga zur Erstellung der Erklärung des Lebendigen Waldes durchgeführt wurde, war es unmöglich, alle Wesen, die zum Kosmos des Waldes gehören, zu benennen. Deshalb wurden nur die prominentesten ausdrücklich in der Erklärung genannt. Der interkulturelle Dialog, den Sarayaku durch die Erklärung des Lebendigen Waldes anstoßen möchte, hat zwei Stoßrichtungen. Zum einen wird der Wald, der mit all seinen Bewohner:innen einen von komplexen Regeln geprägten Kosmos darstellt, in geschriebene Worte übersetzt und so für die Menschen in Sarayaku zugänglich gemacht.  Die Erklärung ist daher nicht nur als Text zu den Rechten der Natur zu lesen, sondern geht darüber hinaus:

Sie ist zugleich ein Vorschlag für das Zusammenleben in Sarayaku. Sie soll helfen, das Recht des Waldes zu respektieren und anzuwenden, mit dem Ziel, ein gutes Leben zu führen. 

Gleichzeitig muss der Text auch für Menschen außerhalb Sarayakus verständlich sein, um den Rechten der Natur Leben einzuhauchen Er beinhaltet Argumente, weshalb der Lebendige Wald Träger von Rechten sein sollte. Er ist ein juristisches Instrument von Sarayaku, eine Kategorie, die aus den Wissensformen Sarayakus selbst heraus formuliert wurde.

Anwendung des ‚Waldrechts‘

Wie genau die Erklärung des Lebendigen Waldes umgesetzt wird, ist -- wie wahrscheinlich bei jedem Gesetz – umstritten und einem stetigen Wandel unterworfen. Die menschliche Bevölkerung in Sarayaku nimmt beispielsweise zu, während Wildtiere und andere Waldwesen weniger werden. Daher kann seltener als zuvor „ausreichend“ gejagt werden (wobei sich auch das, was unter „ausreichend“ verstanden wird, im Laufe der Zeit verändert hat).

Das betrifft auf die Jagdpraktiken. Die menschlichen Bewohner:innen von Sarayaku müssen heutzutage tiefer in den Wald gehen, um erfolgreich jagen zu können. Deshalb wurden Praktiken, die als "nachhaltige Jagd" bezeichnet werden, eingeführt. Sie beruhen auf verschiedenen Strategien, einschließlich des Dialogs mit „externem“ Wissen. Sogenannte Kaskirunas -- Hüter:innen des Lebendigen Waldes, die den Zustand des Waldes ständig überwachen -- legen nun fest, wo Chakras (Anbauflächen in einem traditionellen Rotationssystem) angelegt werden. Verbote betreffen beispielsweise die Jagd von Tapiren (Tapirus terrestris) sowie von Tieren, die in Herden oder mit Jungtieren angetroffen werden, oder den Fischfang mit barbasco (Lonchocarpus utilis), einem giftigen pflanzlichen Stoff. Darüber hinaus sieht das Wald-Recht auch den Verzicht auf den Verkauf von Wildfleisch vor, sowie auf die Annahme von Nahrungsmittel, die nicht aus Sarayaku stammen, wie Hühnchen, Linsen und Reis.

Auch bei traditionellen Festen, wie dem Fest der Pacha Mama, gibt es Regeln dafür, wie viel gejagt werden darf.

Während dieses Festes wird die Pacha Mama gefeiert und des kollektiven Kampfes der Sarayaku um ihr Territorium gedacht. Dieser hatte auch einen gewissen Einfluss auf die Anerkennung der Rechte der Natur in Ecuador, für die eine starke Indigenen-Bewegung eine wichtige Triebfeder war.

Während dieses Festes wird auch am Konzept des Lebendigen Waldes gearbeitet, dieses wird hier weitergetragen und stetig neu bewertet.

Jede Runa (Person aus Sarayaku) hat ihre eigene Art, das Recht des Lebendigen Waldes, Kawsak Sacha, anzuwenden. Jede Person tritt auf ihre Weise mit den Wesen des Waldes in Verbindung. Trotzdem hat Sarayaku auf kollektiver Ebene Strategien entwickelt, um die Deklaration und ihren Kampf für den Lebendigen Wald voranzubringen. Beispielsweise haben sie an den Klimakonferenzen in Paris (2015) und Bonn (2017) teilgenommen und darüber hinaus eine eigene Amazonas-Klimakonferenz auf ihrem Territorium organisiert. Bei dieser Zusammenkunft kommen Vertreter:innen verschiedener Völker zusammen, um Wissen zu teilen und gemeinsam für die Völker zu handeln.

Sarayaku unterbreitet mit der Kategorie des Lebendigen Waldes einen Vorschlag für alle Völker der Welt, der in einer globalen Minga umgesetzt werden soll. Dieser Vorschlag basiert auf den Rechten der Natur sowie kollektiven Rechten und ruft zur Entwicklung eigener rechtlicher Instrumente für den Umgang mit der Natur auf.

Denn im Lebendigen Wald des Amazonas erklingen nicht nur die Rufe der Frösche wie Unkulu. Wir finden dort auch Regenameisen, Sonnenameisen und den Tukan (Ramphastos tucanus) mit seinem Gesang. Die Wesen des Waldes singen im Territorium – und diese Gesänge sind in der Erklärung des Lebendigen Waldes festgehalten. Das Singen ist ein Ausdruck ihrer Existenz. Diese Existenz und dieses Singen werden von den Rechten der Natur in der ecuadorianischen Verfassung geschützt.

 

Jenny García Ruales ist Doktorandin der Anthropologie an der Philipps-Universität Marburg, und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Max-Planck-Forschergruppe "Umweltrechte im kulturellen Kontext" am Max-Planck-Institut für Sozialanthropologie in Halle (Saale). Sie ist Promotionsstipendiatin der Heinrich-Böll-Stiftung.

 

Weitere Informationen unter: https://kawsaksacha.org/